Lästern

Warum lästern wir?

Je mehr wir über andere lästern oder urteilen, desto weniger lieben wir uns selbst.

Lästern – für einige von uns ist es fast eine Sucht, für andere gar nicht. Wie kommt das eigentlich? Was macht es so unwiderstehlich, über andere Menschen etwas Negatives zu sagen? Ich habe das an mir selbst und an anderen intensiv untersucht, d.h. ich habe den inneren Zustand genau betrachtet, in dem ich mich befinde, wenn ich lästere. Und es ist immer derselbe.

Wenn ich lästere, befinde ich mich in einem insgesamt lieblosen Bewusstseinszustand. Wenn ich z.B. jemand sehe, der mehr als 150kg auf die Waage bringt, entweicht mir manchmal ein trockenes „Oh.“ Ich bin zwar anständig genug sozialisiert, dass ich nichts Krasses über Dicke sage, aber ich kenne ja meine innere Haltung zu dem Thema. Für mich ist Dicksein 1) ein Zeichen für falsche Ernährung, 2) für mangelnde Selbstreflexion und Disziplin oder 3) für ein übergroßes Schutzbedürfnis. Mir kommen Gedanken wie „Wie kann man sich nur so gehen lassen?“ oder „Bestimmt trinkt sie nur Cola.“ Da ist auch noch eine andere Stimme, die etwas mitfühlender ist und z.B. denkt: „Oh, die Arme, sie braucht offenbar viel Schutz! Vielleicht hat sie einen sexuellen Missbrauch erlitten?“, aber die lästernden Gedanken sind schneller und lauter. Ich drücke sie zwar nicht aus (mal von dem „Oh“ abgesehen), aber deswegen sind sie ja nicht weg.

Wenn ich lästernde oder urteilende Gedanken über andere Menschen habe, befinde ich mich in einer arroganten Haltung. Da sind Hohn und Spott. Ich stelle mich über die Person, ich urteile über sie, weil ich dann besser da stehe. Aber warum habe ich überhaupt den Impuls, besser dazustehen als jemand anderes? Warum schauen wir überhaupt hin und denken darüber nach, wie jemand aussieht und lästern darüber? Warum hat Schneewittchens Stiefmutter sich ständig mit Schneewittchen verglichen, anstatt einfach ihr Leben zu genießen? Ich kenne nämlich auch durchaus Menschen, die haben diese negativen Gedanken über andere nicht! Der Grund ist: Wir sind mit anderen genauso streng wie mit uns selbst. Und was wir über andere denken, ist oft sogar noch freundlich im Gegensatz zu dem, was wir über uns selbst denken.

Wenn wir mit anderen gemeinsam lästern, spüren wir zwar häufig ein Gefühl der Verbundenheit und fühlen uns zugehörig. Aber dies ist Zugehörigkeit auf sehr niedrigem Niveau: Wir müssen jemanden dissen, um uns gemeinsam gut zu fühlen. Wir sind gemeinsam lieblos. Das schafft tatsächlich eine Art von Gemeinschaftsgefühl – nur eben auf einem sehr niedrigen Level, wie bei Waldorf und Statler aus der Muppetshow:

Jedes einzelne von uns gesprochene oder gedachte Urteil weist auf eine ungeheilte Wunde in uns selbst hin.

Bereits im Juni 2016 hatte ich über ein Seminar bei Robert Gonzales berichtet, an dem ich teilgenommen hatte. Robert hatte gesagt, jedes Urteil, dass wir über uns oder über jemand anderen fällen, weise auf eine ungeheilte Wunde hin, die wir in den Rand unseres Seins geschoben haben. Jedes einzelne Mal, wenn wir urteilten, schreie diese Wunde „Sieh mich!“. Entstanden sind diese Wunden in der frühen Kindheit.

Wir alle haben „Erziehung“ erlebt, und diese setzt sich einerseits zusammen aus Regeln, Verboten, Verurteilungen, Lob, Belohnungen und Strafen, andererseits auch aus Beobachtung der Erwachsenen, unseren gezogenen Schlussfolgerungen und Entscheidungen. Und wann immer wir Ablehnung, Zurückweisung, Tadel erfahren haben, kann eine solche Wunde entstanden sein – Robert spricht von Entwicklungstraumata.

Ein Trauma entsteht nämlich nicht nur durch dramatische Situationen wie sexuellen Missbrauch, Kriegserlebnisse, Unfälle oder dergleichen. Vielmehr kann je nach persönlicher Disposition schon ein Anschreien, eine Herabsetzung, eine Beschämung, eine Ohrfeige oder irgendein energetisches Nein, das wir erlebt haben, dazu geführt haben, dass wir erstarrten und/oder uns wertlos fühlten.

Oft fühlten wir unter oder neben der Erstarrung vielleicht Wut oder Verachtung, die wir nicht ausdrücken durften, weil wir ja sonst befürchten mussten, nicht mehr liebgehabt zu werden. Besonders wenn diese Gefühle von Wut und Verachtung häufiger auftraten, häuften sie sich an – und wenn sie nicht ausagiert werden konnten, verblieben sie im System.

Wir waren also nach außen vielleicht „brav“ und „wohlerzogen“, aber innerlich tobte ein Kampf: Einerseits brauchten wir die Liebe unserer Eltern und passten uns so gut an, wie wir konnten, um die nächste Beschämung oder Verurteilung so weit wie möglich aufzuschieben. Andererseits waren wir wütend auf sie, weil wir nicht wir selbst sein durften, und weil wir uns ungerecht behandelt fühlten. Aber Wut ist ein sehr geächtetes Gefühl, und wenn wir dieses Gefühl zeigen würden, würde uns vielleicht die Liebe entzogen. Also verstecken viele von uns diese Wut unter meterdicken Betonplatten, so dass wir sie selbst nicht mehr spüren. Aber sie ist noch da.

Wenn wir Wut nicht fühlen dürfen, müssen wir verachten und verurteilen. Uns selbst und andere.

Sie können sich unausgedrückte Wut vorstellen wie eine brodelnde Masse, die unter einer Betonplatte vor sich hin gärt und stinkt. Und durch die schmalen Ritzen der Betonplatte entweicht manchmal eine Art Furz. Man erkennt ihn nicht mehr als Wut, sondern als Verachtung, Verurteilung oder chronische Unzufriedenheit – das hängt von der Dicke der Betonplatte ab.

Wir lieben unseren Nächsten wie uns selbst – oder eben wie uns selbst nicht

Dass man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst, steht schon in der Bibel. Aber man tut das auch ohne Imperativ buchstäblich: Man kann nämlich den Nächsten nur so sehr lieben wie sich selbst – oder eben so wenig wie sich selbst. Bei den meisten Menschen trifft eher das Letztere zu. Denn wenn man von seinen Bezugspersonen gar keine Liebe oder nur eine Liebe erfahren hat, die an Bedingungen geknüpft war, liebt man sich gar nicht oder nur, wenn man die Bedingungen erfüllt – was streng genommen ja auch keine Liebe ist, sondern ein Handel. Man kann nur die Liebe weitergeben, die man kennen gelernt hat.

Selbstliebe geht immer in zwei Richtungen.

Selbstliebe

Diese Grafik erschien immer wieder vor meinem geistigen Auge, und sie ist eigentlich in Bewegung: Die Pfeile jeder Linie starten gemeinsam in der senkrechten Mittellinie und bewegen sich synchron nach links und rechts voneinander weg . Die Mittellinie stellt die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt dar. Man kann niemanden mehr lieben als sich selbst, aber auch nicht weniger. Die Intensität an Liebe, die man zur Verfügung hat, geht sowohl nach innen als auch nach außen.

Alles, was wir uns selbst antun, tun wir daher im gleichen Maß auch anderen an: Wenn ich mich selbst nicht liebe, liebe ich niemanden anderen. Wenn ich mich selbst nur wenig wertschätze, wertschätze ich auch andere nur wenig. Wenn ich einen lauten inneren Kritiker habe, lästere ich auch häufig über andere Menschen. Wenn ich viel Strenge und Verurteilung erlebt habe, werde ich auch selbst streng – mit mir und anderen. Wir legen also an andere Menschen die gleichen Maßstäbe an wie an uns selbst: Was wir nicht dürfen, dürfen sie auch nicht.

Banales Beispiel: In Museen oder Sehenswürdigkeiten darf häufig nicht fotografiert werden. Ich halte mich zähneknirschend daran, und wehe, wenn ich jemanden sehe, der es doch tut! Entweder ich verpetze ihn oder ich sage ihm direkt selbst, dass er nicht fotografieren darf.

Krasseres Beispiel: Als Taryn Brumfitt, die australische Dokumentarfilmerin von „Embrace“ Fotos in Facebook geteilt hatte, auf denen sie erst schlank und dann pummelig zu sehen war, erhielt sie neben viel Zustimmung auch zahlreiche Hasskommentare, weil sie so fett sei. (Ich empfehle diesen Film übrigens frenetisch!)

Das Beispiel mit Taryn Brumfitt ist dem Fotografierverbot sehr ähnlich: Ich hatte gedacht „Wenn ich nicht fotografieren darf, dürfen die das auch nicht!“. Und die Hater hatten (unbewusst) gedacht: „Wenn ich mich nicht selbst lieben darf, wie ich bin, darf diese Tussi das auch nicht!“

Wenn wir dazu dressiert wurden, freundlich zu sein, sind wir nur Wölfe, die Kreide gefressen haben.

Wenn Freundlichkeit in uns hinein erzogen oder gar reingeprügelt wurde, ist sie kein Geschenk an den anderen, sondern hat einen hohen Preis. Denn unbewusst verübeln wir unserem Gegenüber (eigentlich unseren Eltern), dass wir uns so anstrengen müssen, um von ihm gemocht zu werden. Und vielleicht verurteilen wir das Gegenüber unbewusst für alles, was es falsch macht, während dieses gar nicht weiß, in welchem Handel es sich befindet. In diesem Zusammenhang fällt mir besonders Emily Gilmore aus der Serie „Gilmore Girls“ ein, aber auch alle Dialoge sämtlicher Jane Austen-Romane. Wir tun nach außen freundlich, weil wir Zugehörigkeit brauchen und nicht abgelehnt werden wollen, aber innen sind Spott, Verachtung, Hohn, Verurteilung. Und darunter natürlich Angst und Trauer und Einsamkeit.

Und genau deshalb lästern wir.

Ich lade sie dazu ein, beim nächsten Mal, wenn Sie den Impuls zu lästern verspüren, in sich hineinzuhorchen und sich liebevoll zu fragen, was Sie gerade dazu bewegt, über jemanden negativ zu denken, zu sprechen – und zwar besonders dann, wenn Sie diese Person nicht kennen. Und vielleicht bekommen Sie einen zarten Kontakt zu der Wunde, die eigentlich nur von Ihnen gesehen und versorgt werden möchte. Bitte seien Sie freundlich zu sich – streng waren Sie schon viel zu lange. 😉