Schon in früher Kindheit wird uns beigebracht, dass wir bescheiden sein sollen: Vom leckeren Kuchen sollten wir uns nicht vier, sondern nur ein Stück nehmen, sonst schimpfte man uns als egoistisch. Man brachte uns bei, nicht zu viel zu wollen, uns zurück zu nehmen, uns nicht wichtig zu nehmen, genügsam zu sein, uns also mit wenig zufrieden zu geben.

Je nach dem, wann und mit wie viel Prügel uns dies beigebracht wurde, haben wir es mehr oder weniger stark verinnerlicht. Manche von uns spüren noch, dass wir eigentlich am liebsten die halbe Erdbeertorte inhalieren möchten, auch wenn wir uns nach außen natürlich vornehm zurückhalten, andere setzen die innere Schere schon so früh an, dass sie nicht einmal mehr merken, dass ihnen ein Stück eigentlich zu wenig ist. Das Wort müsste Beschneidenheit heißen, denn wir beschneiden uns wie einen Bonsai.

Ähnlich ist es mit Stärken und Fähigkeiten, die wir haben: Wir wissen, dass wir saugut malen oder singen können, aber wir halten uns vornehm zurück, weil man ja nicht angibt. Eigenlob stinkt. Auch das ist Bescheidenheit.

Bescheidenheit ist anerzogen.

Kein Kind ist von selbst bescheiden, denn jedes Kind kommt mit dem Bewusstsein auf die Welt, eins mit allem zu sein – das hängt mit der Gehirnentwicklung zusammen. Für jedes Kind gibt es nur es selbst. Demzufolge ist auch die Rassel, der Apfel, der Schnuller, der Bauklotz ein Teil von ihm. Es nimmt sich, was es will, weil es gar nicht in Mein/Dein denkt – es denkt vielmehr überhaupt noch nicht. Jedem kleinen Kind gehört schlicht alles. Erst mit der Herausbildung des Gefühls, ein abgetrenntes Selbst zu sein und der daraus folgenden Unterscheidung, dass da draußen scheinbar noch andere Wesen sind, kommt das Mein & Dein in die Welt. Und dann kommen Mama und Papa, Oma und Opa und erklären, dass man dem anderen nicht den Kuchen wegessen darf.

Bescheidenheit ist eine bedürfnisverleugnende Verhaltensweise, die wir uns angeeignet haben, damit wir geliebt werden.

Wenn wir nicht bescheiden waren, kriegten wir eins drauf, entweder tätlich oder verbal (ich auch). Also haben wir uns angepasst, geduckt, haben versucht, uns formschön und flauschig zu verhalten, damit wir gelobt und geliebt werden. Manche haben dadurch den Kontakt zu ihren anderen Bedürfnissen völlig verloren.

Und wenn wir erwachsen sind, ist Bescheidenheit eine total verlogene Eigenschaft, die dem Ego dient. Denn wenn jemand von sich sagt, er sei bescheiden, dann ist er insgeheim ja stolz darauf. Der eine bildet sich etwas auf seine Segelyacht ein, der andere eben auf seine Genügsamkeit. Beide wollen ihr Ego aufpumpen, nur mit unterschiedlichen Mitteln. Der Satz „Ich bin bescheiden“ ist also ein Widerspruch in sich. Denn wenn ich wirklich bescheiden bin, sage ich das nicht. Ich denke es nicht einmal. Wenn ich es aber sage, dann will ich anerkannt werden für meinen guten Charakter. Die Wahrheit hinter „Ich bin bescheiden“ ist also: „Ich gehöre zu den besseren Menschen, weil ich immer erst an andere denke – das ist ein Zeichen für eine sehr gute Erziehung bzw. einen sehr guten Charakter.“ Also ein Fall von „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“, nur mit anderen Mitteln.  Identifikation mit Bescheidenheit ist genauso Anhaftung wie die Anhäufung von Besitztümern.

Entlarven kann man bescheidene Menschen, indem man gierig ist und sich eben doch noch das fünfte Stück Erdbeertorte nimmt oder sagt, dass man toll singen oder malen kann. Holla, dann ist aber was los! 😀 Wenn jemand wirklich bescheiden wäre, könnte es ihm nämlich gleichgültig sein, ob ich fünf Stück Erdbeertorte esse oder nur eins. Er braucht ja nicht viel, stimmts? Aber das ist ja nicht wahr. Wenn der Bescheidene sich schon so stark zurücknehmen muss, um ein guter Mensch zu sein, kann er nämlich nicht einfach so zulassen, dass ich meine Gier auslebe. Das Mindeste, was er tun muss, ist: mich verurteilen, und zwar entweder leise oder laut: „Wie kann man nur so gierig/egoistisch sein?“ Oder auch: „Die ist wohl mit 180 durch die Kinderstube gerast!“ Was ich nicht darf, darfst du nämlich auch nicht.

Die wenigen Menschen, die wirklich kaum Anhaftung haben, erkennt man daran, dass sie Reichtum und Armut gleichermaßen nehmen und wieder loslassen können. Sie genießen die Fülle und jammern nicht über den Mangel. Sie nehmen sich ein schmales Stück Erdbeertorte und gönnen einem anderen, dass er sich die halbe Torte einverleibt, ohne ihn zu verurteilen. Und: sie machen kein Gewese über ihre Bescheidenheit. Sie reden nicht drüber. Haben sie nicht nötig. Denn nur das Ego muss immer gackern.

Viele gibt es nicht von dieser Sorte. Ich gehöre auch nicht dazu.  Aber ich würde auch nie von mir behaupten, bescheiden zu sein.