Sich selbst lieben lernen – eigentlich kein großes Ding, sollte man meinen, wenn man wie ich seit 13 Jahren Gewaltfreie Kommunikation lernt/kann/weitergibt. Ich dachte, ich hätte einfach ein flapsiges Verhältnis zu mir. Ich dachte, ich könne mal denken „Boah, bin ich doof!“, ohne es ernst zu meinen. Ich bin doch mein guter Kumpel, oder?
Nee, war ich nicht.

Ich gehe im Moment durch eine schwere Zeit, und aus Datenschutzgründen werde ich nicht näher darauf eingehen, welche äußeren Gegebenheiten diese Zeit schwer machen. Aber ich kann sagen, dass die Schwere zu einem wesentlichen Teil darin besteht, dass eine meiner Töchter mich ablehnt. Sie ist gerade 16 geworden, und es gehört in dem Alter sicher dazu, dass man seine Mutter ablehnt. Doch ich kann das leider nicht einfach so wegstecken. Denn Ablehnung war eines meiner größten Kindheitsthemen (das andere ist Angst), und es wird jedes Mal getriggert, wenn eine Person mich ablehnt, an der mir wirklich etwas liegt.

Woher kommt dieses Thema? Man kann es nachvollziehen, dass ein 21jähriger Mann, zwei Monate vor Kriegsende in Ostberlin geboren, keinen Bock darauf hat, Vater zu werden. Wurde er aber doch, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er zu seiner 19jährigen Frau hielt, auch wenn er mit diesem kleinen Bündel, das auf einmal hinzu kam, nichts anfangen konnte – und das wurde auch nicht besser, als das Bündel älter wurde. Ich will nicht weiter ins Detail gehen, weil meine Familie das ja auch alles lesen kann – jedenfalls erfuhr ich über viele Jahre von mehreren Seiten Ablehnung: von meinem Vater am nachhaltigsten, aber auch von meiner Großmutter und anderen Verwandten. Und ich tat, was jedes Kind tut – ich lernte, damit umzugehen. Indem ich mich selbst ablehnte. Was auch immer andere Menschen mir sagten, wie ich mich ändern müsse, damit sie mich mögen könnten, ich versuchte, es umzusetzen. Natürlich war das zum Scheitern verurteilt, denn jeder hat ja andere Vorstellungen und Erwartungen, aber das wusste ich als Kind leider nicht. Ich dachte einfach, ich sei falsch und alle anderen seien richtig. Und wenn jemand mein Verhalten kritisierte oder sogar, wenn eine Kritik nur unmittelbar bevorstand, demontierte ich mein Verhalten und meine ganze Person lieber gleich selbst – so bestand wenigstens Hoffnung, dass mein innerer Kritiker noch gemocht wurde: „Sie sieht es wenigstens ein.“ In den 1970ern war man noch nicht so schnell mit Therapeuten, daher bemerkte keiner, dass ich Hilfe brauchte. Und obwohl ich eine liebevolle Mutter hatte, fühlte ich mich während meiner ganzen Kindheit sehr allein. Denn auch sie war zu jung und zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um meine Not zu sehen.

Bis in meine Zwanziger hasste ich mich leidenschaftlich und gab jedem Recht, der mich nicht leiden konnte. Oft lag ich eine Stunde lang weinend auf meinem Bett und verdrosch mich mit negativen Urteilen. Immer tiefer schraubte ich mich in den Schmerz und hasste es, ich sein zu müssen. Ich war unfassbar allein, denn niemand verstand, warum ich mich so fertig machte. Meine Freunde rieten mir, selbstbewusster zu werden, aber auch das kann man gegen sich verwenden, denn ich schaffte es ja nicht.

Der Satz „Ich bin nicht liebenswert“ stand deutlich in meiner Aura, und so nützte es mir auch nichts, dass ich sehr hübsch war, denn alle Jungs checkten sofort, dass ich kein Selbstbewusstsein hatte und fanden mich dann auch nicht mehr attraktiv, außerdem zog ich manchmal richtige Arschlöcher an. Ist ja auch nur folgerichtig.

Aber das Leben wurde irgendwann einfacher: Meine Beziehungen dauerten länger, die Typen wurden „okayer“ als vorher, und irgendwann war mein Selbstbewusstsein groß genug, dass ich meinen jetzigen Mann anziehen konnte. Ich dachte, ich sei mit dem Thema Selbstliebe endlich durch.

2007 lernte ich in einem Retreat in Indien den Satz „Jeder Schmerz, der vollständig erfahren wurde, verwandelt sich in Freude“. Und auch wenn mein Leben schon deutlich besser geworden war, gab es immer noch viel Schmerz in mir, den ich gerne auflösen wollte. Mittlerweile war ich Mutter von Zwillingen, und jeder, der Kinder hat, weiß, wie sehr sie einem die Knöpfe drücken. Ich wollte diese Übung also umsetzen, doch sie funktionierte bei mir nicht. Ich kam zwar gut in den Schmerz rein, aber nicht wieder heraus. Schon wieder stimmte etwas mit mir nicht. Und erst vorgestern habe ich verstanden, was der Fehler war: Ich machte immer noch das Gleiche, das ich jahrelang getan hatte. Ich bohrte mich mittels negativer Sätze immer tiefer in den Schmerz hinein und verletzte mich dadurch immer noch weiter. Das Problem waren meine negativen Gedanken über mich.

Eine meiner engsten Freundinnen hatte mich schon öfter darauf hingewiesen, wie gewaltvoll meine Gedanken über mich seien. Mir war das meist gar nicht bewusst. Aber es stimmt, sie kamen zwar schnoddrig und witzig daher, aber sie waren eigentlich total verletzend. Meine Erfolge spielte ich herunter, aber Fehler vergrößerte ich hundertfach. Ich war in der Lage, in einem Nebensatz Hämmer über mich rauszuhauen, die ein Pferd umbringen konnten.

Und mit der Pubertät meiner Töchter kam dann das Thema Ablehnung nochmal auf den Tisch. Und zwar mit Verstärker: Als Kind konnte ich noch dissoziieren, aber als Mutter erlebe ich die Ablehnung wie eine Herzoperation ohne Narkose. Und ich komme aus der Nummer nicht raus, denn ich kann mich nicht von ihnen trennen, ich kann sie nicht zu Arschlöchern stempeln, weil ich sie so sehr liebe. Es ist also alles wieder da, nur schlimmer als früher. Und wenn bis vorgestern meine Tochter z.B. die Augen nach oben rollte oder schwer atmete, wenn ich etwas sagte, dann dachte ich Gedanken wie „Es sollte mir nichts ausmachen“, „ich bin viel zu klebrig“, „ich sollte nicht so bedürftig sein“, „sie wären alle ohne mich besser dran“, und so weiter. Ich war zwar mit dem Schmerz verbunden, aber ich verstärkte ihn noch selbst und verprügelte mein Inneres Kind immer noch mehr.

Gestern habe ich in einem Telefonat mit Markus Schneider erlebt, dass der darunter liegende, echte Schmerz keine Gedanken braucht. Er ist ohnehin schon schlimm genug. Der Schmerz sah aus wie ein riesiger Kessel voller Feuer und ich warf mich hinein. Ich heulte und heulte so lange, bis ich nicht mehr konnte, und hinterher wusste ich, dass ich noch nicht fertig bin, denn ich war nur erschöpft, aber nicht erleichtert. Aber dieser Kessel wartet ja auf mich so lange, bis das Feuer erloschen ist, und ich kann immer wiederkommen, wenn ich dazu bereit bin. Und alles, was es braucht, ist Mitgefühl mit mir und diesem verletzten Kind, das dort auf mich wartet.

Ich werde also nicht mehr negativ über mich denken oder sprechen. Ich möchte keine verallgemeinernden Sätze mehr über mich denken. Ich möchte mich nicht mehr abwerten. Und falls es mir doch mal passiert, werde ich nachsichtig mit mir sein, damit ich mir nicht über die Hintertür gleich das nächste SOLLTE ins Haus hole. Schwierig wird es allerdings, wenn ich damit konfrontiert werden, dass ich jemandem etwas angetan habe. Es braucht viel Achtsamkeit, vom Bedauern nicht in uferlose Selbstvorwürfe abzugleiten, weil die neuronalen Netzwerke in diese Richtung leider sehr gut ausgebaut sind.

Und die Selbstliebe geht noch weiter: Ich möchte mich abgrenzen, damit mir keiner mehr in meinen inneren Vorgarten trampelt. Ich möchte mich viel mehr wehren, wenn mir jemand Unrecht tut. Ich möchte mir nichts mehr aus Höflichkeit überstülpen lassen. Bevor ich mich in meinen Feuerkessel begebe, möchte ich meinen Sicheren Inneren Raum aktiviert haben, damit ich hinterher darin auftanken und mich erholen kann. Und ich möchte achtsam dafür sein, wo ich noch überall gewaltvoll mit mir spreche, damit ich es anders ausdrücken kann.

Ich möchte mich nicht mehr für Tränen entschuldigen. Und wenn meine Tochter die Augen rollt, weil ich weine, dass sie mich ablehnt, dann werde ich den Schmerz darüber fühlen, ohne mich noch weiter schlecht zu machen. Allgemein möchte ich mich viel weniger entschuldigen.

Aber es gibt Menschen, denen ich wirklich mein Bedauern ausdrücken möchte:
1. Meinem Inneren Kind: Es hat 49 Jahre lang unfassbar unter mir gelitten. Und das tut mir wirklich leid.

2. Meinen Töchtern: Ich bedaure, dass es so lange gedauert hat, bis ich das oben Beschriebene sehen konnte. Ich konnte mich dadurch nicht so verhalten, wie ich mich gerne verhalten hätte. Ich habe mein Bestes gegeben, aber es hat vermutlich eure Bedürfnisse oft nicht so erfüllt, wie ich es gerne getan hätte. Das tut mir sehr leid.

Gestern begann ein bisschen so etwas wie ein neues Leben. Ich bin meine neue beste Freundin und eine liebevolle Mutter für mein Inneres Kind. Und ich bin gespannt, wie es weiter geht.

Dass ich das teilen kann, liegt daran, dass ich weiß, dass ich überhaupt keine Ausnahme bin. Viele Menschen sind sich ihrer Schmerzen und Traumata nicht bewusst, aber fast alle Menschen haben solche Schmerzen, die sie mit sich herumtragen. Viele entfliehen ihnen, indem sie z.B. rauchen, trinken oder härtere Drogen nehmen, sich mit Medien betäuben, andere Menschen abwerten oder gar fremdenfeindlich werden (und einen Populisten zum Präsidenten wählen). Auch chronische Krankheiten haben oft Traumata als Ursache. Am Zustand der Welt kann ich ablesen, dass es „de Mensche wie de Leut geht“, wie es meine Großmutter ausdrücken würde, dass also „unter jedem Dach ein Ach“ ist (auch das hat irgendeine Verwandte mal gesagt). Jedes Urteil, jeder Ärger, den wir fühlen, ist eine ungefühlte Wunde unseres Inneren Kindes.Die Welt ist voller Innerer Kinder, die erwachsen geworden sind, ohne dass sie je ihre tiefen emotionalen Wunden heilen konnten. Niemand wird als Arschloch geboren, nicht mal Donald Trump – aber das ist jetzt ein anderes Thema.

Ich habe diesen Artikel geschrieben, weil ich Ihnen Mut machen will, mit der Selbstliebe anzufangen. Es ist nie zu spät. Sie tun es für sich selbst und für alle anderen.