Die Thermospumpkanne, in der ich Tee für meine Übungsabend-Teilnehmer bereitgestellt hatte, steht manchmal eine Woche in der Küche auf der Spülmaschine, bevor ich sie spüle. Mein Mann regt sich oft darüber auf und wirft mir vor, ich würde darauf spekulieren, dass er sie wegspült.

Wenn mein Kind aus der Schule kommt, schleudert es seine Stiefel auf den Boden, anstatt sie in das Schuhregal zu räumen. Ich ertappe mich dabei, wie ich denke, sie mache das nur, weil sie der Meinung sei, das Personal (also ich) könne die Stiefel ja wegräumen.

Solche Gedanken sind fast immer Quatsch.
Wenn ich die Pumpkanne nicht spüle, dann liegt das daran, dass ich sie nicht sehe. Wenn mein Kind seine Stiefel nicht ins Regal räumt, dann kommt das daher, dass es gerade an etwas anderes denkt. Jeder Satz „Er hat es nicht für nötig befunden“ endet auf jeden Fall mit einem Irrtum.

Wahrscheinlich gehört zu den häufigsten Fehlern, die wir begehen, zu denken, alle dächten so wie wir.

Hermann Kant

 

Wie ich nicht müde werde hier zu erklären, lebt jeder in seiner eigenen Welt. In meiner Welt räumt man seine Stiefel ganz automatisch ins entsprechende Regal, aber meine Tochter hat eine andere Welt und daher einen anderen Fokus. Für sie ist etwas anderes gerade wichtiger. Sie denkt überhaupt nicht über die Stiefel nach, wenn sie sie auszieht. Ihre Gedanken sind wahrscheinlich bei Hanni und Nanni oder einem Lied, das sie herunterladen will oder beim Mittagessen oder bei einem Streit, den sie mit einer Schulkameradin hatte oder was weiß ich. Wenn ich die Pumpkanne nicht spüle, dann sicher nicht, weil ich hoffe, dass mein Mann sie spült. Ich denke an Kunden A oder Kunden B oder an den Streit mit meiner Tochter (z.B. wegen der nicht weggeräumten Stiefel) oder an ein Problem mit der neuen Website des Kunden C. Oder ich sehe sie einfach nicht.

Man könnte sagen, die Pumpkanne steht doch groß und mächtig vor dir, Michaela, wie kannst du sie denn übersehen? Ich zeige Ihnen mal was.

Zählen Sie mal die Ballwechsel des weißen Teams:

Wie viele Ballwechsel haben Sie gezählt?

Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?

Zum Beispiel ein Gorilla, der durch das Bild gegangen ist? Nein? Schauen Sie sich das Video noch einmal an.

Wenn mein Mann so konditioniert ist, dass man immer gleich alles wegspülen muss, was man benutzt hat, dann sieht er natürlich alles, was wie Geschirr aussieht und nicht im Schrank steht (mit seinem Bürokram ist er wesentlich entspannter, der kann Wochen und Monate in Stapeln herumliegen!). Und wenn ich einen Ordnungsfimmel im Flur habe (ja, den habe ich!), dann heißt das nicht, dass andere den auch haben müssen. Ich kann also nicht erwarten, dass andere Menschen meine Gedanken denken. Sie beschäftigen sich überhaupt nicht mit der Ordnung – nicht einmal dergestalt, dass sie sich heimlich ins Fäustchen lachen, dass sie mich jetzt mal richtig gut gefoppt hätten.

Aber diese Art von Denken kommt natürlich nicht nur beim Aufräumen vor, sondern überall dort, wo Menschen ein bestimmtes Verhalten erwarten, das dann nicht eintritt. Man sendet z.B. eine E-Mail, in der man eine bestimmte Frage gestellt hat, und es kommt keine Antwort. Schnell neigt man dann dazu, die Nichtreaktion persönlich zu nehmen und das Verhalten des Anderen zu interpretieren, z.B. als Ignoranz bzw. Unhöflichkeit. Aber vielleicht hatte man die Frage ja gar nicht sooo klar formuliert? Oder der Andere hat die E-Mail einfach nicht erhalten? Oder er hatte keine Zeit und dann hat er die E-Mail vergessen? Oder er weiß die Antwort nicht und schiebt sie daher einfach auf? Die Wahrscheinlichkeit, dass der Empfänger die E-Mail liest und sich denkt: „So, den Blödmann lasse ich jetzt mal schön lange schmoren!“ ist jedenfalls relativ niedrig.

Beobachten Sie sich einfach mal dabei, wie Sie Ihrem Gegenüber eine bestimmte Geisteshaltung unterstellen und machen Sie sich dann klar, dass Sie keine Ahnung haben, was wirklich bei ihm abgeht. Sie werden hoffentlich erkennen, dass Sie wirklich nicht wissen, was Ihre Mitmenschen denken. Und das ist der erste Schritt zu echter Neugier auf das, was er wirklich denkt!